Kurz vor Weihnachten hat Michael Jaffé als Insolvenzverwalter des zusammengebrochenen Finanzdienstleisters Wirecard die vormaligen Wirtschaftsprüfer — die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young, kurz EY — auf 1,5 Milliarden Euro Schadensersatz verklagt. Das Verfahren wird beim Landgericht Stuttgart unter dem Aktenzeichen 32 O 109/23 KfH geführt. Das Landgericht Stuttgart ist örtlich zuständig, weil EY dort seinen Sitz hat.

Jaffé wirft EY langjähriges systematisches Versagen bei der Prüfung der Jahres- und Konzernabschlüsse der Wirecard AG soweit der Jahresabschlüsse der Wirecard Technologies GmbH für die Geschäftsjahre 2015 bis 2019 vor.

EY hat jahrelang die Bilanzen testiert, obwohl bis zu 1,9 Milliarden Euro auf Treuhandkonten ausgewiesen waren, ohne dass ihr Vorhandensein tatsächlich belegt war. Wirecard musste Insolvenz anmelden. Der Kurs der Aktie brach ein. Es war die erste Insolvenz eines DAX-Konzerns. Wirecard war zwischenzeitlich mehr wert als die Deutsche Bank.

Bei pflichtgemäßer Prüfung, so die Klagebegründung, hätten die Jahres- und Konzernabschlüsse der Wirecard AG und die Jahresabschlüsse der Wirecard Technologies GmbH seit 2015 nicht mehr uneingeschränkt testiert werden dürfen. Die von EY erteilten uneingeschränkten Bestätigungsvermerke seien unrichtig gewesen. EY habe daher die vertraglichen und gesetzlichen Pflichten verletzt. Jaffé betont, dass bei pflichtgemäßer Prüfung der Wirecard-Skandal früher aufgedeckt worden wäre.

Meines Erachtens dürfte einiges dafür sprechen, dass sich EY schadensersatzpflichtig gemacht hat, denn ein Verstoß gegen die Prüfpflichten scheint naheliegend zu sein. Ob dies aber den gesamten, hier eingeklagten Schaden abdeckt, bleibt abzuwarten. Denn die Prüfung und das Testat beziehen sich in der Regel auf zurückliegende Zeiträume. Ob und in welcher Höhe ein Mittelabfluss der 1,9 Milliarden Euro — falls diese überhaupt existierten — verhindert oder rückgängig gemacht werden konnte, wenn das Testat richtig gewesen wäre, dürfte fraglich sein und in dem Verfahren beim Landgericht Stuttgart thematisiert werden. Auch wäre die Frage der Mitschuld zu erörtern, denn Wirecard oder einzelne Beschäftigte, deren Verhalten sich Wirecard zurechnen lassen dürfte, haben — so zumindest der Vorwurf der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren gegen die Wirecard-Funktionäre — wohl absichtlich massiv getäuscht.1


  1. Verfahren gegen u.a. Dr. Markus Braun vor der Großen Strafkammer des Landgerichts München I unter dem Aktenzeichen 4 KLs 402 Js 108194/22 https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/prozess-auftakt-4kls402js10819422-wirecard-lg-muenchen-markus-braun/↩︎